Offener Brief über die Unterdrückung der Religionsfreiheit in Ungarn - Budapest, 8 August, 2011


An Frau Viviane Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Kommissar für Justiz, Grundrechte und Unionbürgerschaft 

An Herrn Thomas Hammarberg, Europarat-Kommissar für Menschenrechte


Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Reding,

Sehr geehrter Herr Kommissar Hammarberg:

Wir Unterzeichner, Teilnehmer der ehemaligen Menschenrechtsbewegung und Demokratischen Opposition gegen das kommunistischen Einparteiensystem in den 1970er und 1980er Jahren bitten Sie um einen entschlossenen Eintritt für die Verteidigung der Religionsfreiheit und anderen grundlegenden Freiheiten, die sich in Ungarn gegenwärtig in ernsthafter Gefahr befinden.

Ungarns Parlament hat am 12. Juli 2011 aufgrund eines Entwurfs, der zwei Stunden vor Abstimmung eingereicht wurde, ein Gesetz über Kirchen beschlossen, das mehr als 100 Konfessionen ihrem Status als anerkannte Kirche entzogen hatte.

Unter unverhohlener Missachtung von Artikel 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und von Artikel 9 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte sind nunmehr nur vierzehn Konfessionen erlaubt, ihre Anerkennung als Kirche und die damit einhergehende Rechte zu behalten.

Durch Verletzung der demokratischen Standards der Trennung von Kirche und Staat bestimmt das Gesetz, dass die Abstimmung der im Parlament vertretenen politischen Parteien wird in der Zukunft über die Anerkennung als Kirche entscheiden.

Die vierzehn Konfessionen, die ihre Registrierung behalten durften, sind die Römisch-Katholische und die Griechisch-Katholische Kirchen, die Östlich-Orthodoxe Kirchen, die Lutheraner, die Calvinisten, ausgewählte jüdische Konfessionen, die ungarische Unitarier, die Baptisten und die Glaubenskirche (A Hit Gyülekezete).

Unter den Kirchen, die diskriminiert wurden, sind (um nur einige wenige zu erwähnen) Ungarns sämtliche Methodisten, die Pfingstkirchen, die Adventisten, die jüdische Reform-Kirche, die Heilsarmee, die Zeugen Jehovas sowie alle islamischen, buddhistischen und hinduistischen Konfessionen .

Diese Gemeinden wurden nicht nur über Nacht zu einem Paria-Status degradiert, sondern auch alle ihrer sozialen, Gesundheits- und Bildungsleistungen wurden die rechtmäßigen Subventionen entzogen.

Viele der jetzt entrechteten Kirchen sind führend im sozialen Dienst für die Betreuung der Obdachlosen, älteren Menschen und Armen. Sie unterstützen Zehntausende von Menschen in Not, haben Hilfe für Roma, Häftlingen, Kindern und Jugendlichen geleistet. Der Weg über die Streichung ihrer Subventionen führt zu einer sozialen Katastrophe.

Mehrere der ausgestoßenen Kirchen betreiben erfolgreich mittlere und höhere Schulen, denen jetzt die Akkreditierung verweigert wird.

Diese unverfrorene Verletzung der Religionsfreiheit und der Gleichheit der Religionen ist darüber hinaus mit einer offenen Lossagung von der Trennung von religiöser und politischer Institutionen, die vor zwanzig Jahren in unserem demokratischen Übergang erreicht worden war, verbunden.

In Zukunft werden alle die heute entrechteten Kirchen sowie alle neuen die Anerkennung von einem Minister der Regierung beantragen müssen, der ihre religiösen Glaubensbekenntnisse dann "bewerten" wird. Diese Anträge werden auch der Zustimmung des Geheimdienstes bedürfen. Wenn sich der Minister für die Prüfung des Antrags entscheidet, wird er dem Parlament vorgelegt, wo die vertretenen politische Parteien entscheiden, ob der Kirchenstatus anerkannt werden sollte. Ein positives Ergebnis wird eine Zweidrittelmehrheit erfordern.

Das Recht auf gerichtliche Überprüfung ist in diesem Prozess verwehrt. Jede religiöse Gruppe, die seit weniger als 20 Jahre existiert, wird automatisch von der Anerkennung ausgeschlossen. Mit Verletzung der Persönlichkeitsrechte muss jeder eingereichte Antrag von mindestens tausend Bürgern persönlich unterzeichnet werden.

Sehr geehrte Kommissare Reding, Hammarberg:

Nie zuvor hat ein Mitgliedstaat der EU so unverfroren gewagt, gegen die Grundsätze der Freiheit des Glaubens, der Gleichheit vor dem Gesetz, und die Trennung von Kirche und Staat vorzugehen. In unserem gemeinsamen Europa sind alle diese Prinzipien etablierte Grundrechte.

In den 1970er Jahren unter der sowjetischen Herrschaft über Osteuropa, war alles, was wir in ähnlichen Situationen tun könnten, an den Gottesdienststellen, die geschlossen oder abgerissen worden waren, Mahnwachen zu halten.

Wir haben für ein Europa gekämpft, das unter der Ägide der Menschenrechte vereint ist. Waren unsere Hoffnungen vergebens gewesen?

Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist nur das letzte verstörende Beispiel für die vielen schweren Rückschlägen im Bereich der Menschenrechte und in der Rechtsstaatlichkeit, die kürzlich in Ungarn vorgekommen sind.

Wir hoffen aufrichtig, dass Sie nach eingehender Auswertung vom Ungarns neuen Kirchengesetzeine offizielle Untersuchung zu dieser Verletzung der zu allen Europäern gehörenden Rechte einleiten würden.

Mit freundlichen Grüßen,

Attila Ara-Kovács, Journalist

György Dalos, Schriftsteller

Gábor Demszky, Bürgermeister a.D. von Budapest

Miklós Haraszti, ehemaliger OSZE-Beauftragter für Medienfreiheit

Róza Hodošan, ehemaliger MP

Gábor Iványi, Pfarrer

János Kenedi, Historiker

György Konrád, Schriftsteller

Ferenc Köszeg, Gründungspräsident des ungarischen Helsinki Komitee

Bálint Magyar, Minister a.D. für Bildung

Imre Mécs, ehemaliger MP

Sándor Radnóti, Philosoph

László Rajk, Architekt

Sándor Szilágyi, Schriftsteller

Gáspár Miklós Tamás, Philosoph

(Übers. aus dem Ungarischen Fehér, Kálmán)


Signed by 

Balogh Gábor (Kakasd), Vájsz Balázs (Hungary), Ertl István (Helmdange), Soós Attila (Veszprém), Erdélyi Ágnes (Budapest), Csabai Tamás (Felsőörs), Probal Dasgupta (Kolkata)               Bányai Péter (Kolozsvár), Márkus Attila (Budapest), Mauro Nervi (Pisa), Kozma György (Budapest), Kálmán Fehér (Bonn), Bakkné Reisinger Orsolya (Szentendre), Eva Bleier (Canada), Magyar Fruzsina (Budapest), Jürgen Zarusky, Dr.  (Dachau), Yulia von Saal (Dachau), Lukács Tamás dr. (Tószeg), Csirke Gábor (Kishartyán), Lipták Györgyné (Szolnok), Joseph Novak (Alhambra), Gyula Bognár, Jr. (Woodland Hills), Erdődi Éva (Budapest) Gál Istvánné (Budapest/Csongrád), Torkosné Kottner Erzsébet (Hosszúpályi), Csirke Józsefné (Szolnok), Dénes Ottó (Pécs) dr. Braun Gabriella (Magyarország) Vági Zsuzsa (Budapest)

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